Khaled Hafez
   
   
 
 

Interviews

Dialogue between Arno Widmann and Khaled Hafez in Berlin for Berliner-Zeitung Magazin published June 26, 2013
http://www.berliner-zeitung.de/

Die 3 Nationalsozialismen des zwanzigsten Jahrhunderts

Sie sind 49 Jahre alt. Sie können uns etwas über die vergangenen Jahrzehnte in Ägypten erzählen.
Das Ägypten, in dem ich aufwuchs, war völlig anders, als es heute aussieht. Auf dem Land sah es anders aus, in den Städten sah es anders aus, und die Menschen sahen anders aus, und sie bewegten sich anders. In meiner Umgebung gab es, bis ich zwanzig war, nicht ein einziges verschleiertes Mädchen, nicht einen einzigen Mann mit Bart. Das änderte sich mit der Wirtschaftskrise der Siebzigerjahre und mit dem Abrücken vom sowjetischen Modell. Die Öffnung der Märkte ab 1975, die Ägypten mehr oder weniger ins amerikanische Lager rückte, hatte ähnliche Auswirkungen wie die Perestroika später in der Sowjetunion. Die heimische Industrie brach zusammen. Danach begann auch in Ägypten eine Konsumgesellschaft, der mein sieben Jahre jüngerer Bruder eine Weile völlig erlag. Ich erinnere mich noch, als 1979 die erste Fast-Food-Kette – "Wimpy" – nach Ägypten kam, es gab Riesenschlangen, die auf einen Cheeseburger warteten.

Dann kam die Krise? Sie dauerte ewig.
Ägypten kam nicht in den Achtzigern und auch nicht in den Neunzigern wieder auf die Beine. In diesen Jahren verließen sechs bis acht Millionen Ägypter das Land und versuchten in den Golfstaaten, ein paar Petrodollars zu verdienen. Ingenieure, Lehrer, aber auch Bauern aus den Dörfern, die nichts gelernt hatten, suchten Jobs in Saudi-Arabien, in Kuwait, in den Vereinigten Emiraten.

Was war während des Golfkriegs?
Zwei Millionen ägyptische Familien flohen vor dem Krieg, verließen Kuwait, Saudi-Arabien, Irak und kamen zurück. Jetzt war Ägypten wieder ein sicherer Ort im Vergleich zu den anderen Ländern. Wer konnte, kam zurück. Mit den dort geborenen Kindern. Mit den Kindern, die dort zur Schule gegangen waren, die die dortigen Vorstellungen von Gott und der Welt aufgesogen hatten. Ägypten war viel säkularer, moderner als die Golfstaaten gewesen. Jetzt importierten die Heimkehrer aus den Golfstaaten die religiösen, die moralischen Vorstellungen von dort nach Ägypten.

Was war die wichtigste Veränderung?
Die stark religiöse Erziehung. Die Religion durchtränkte alles. Das hatte es in dem Ägypten, in dem ich aufgewachsen war, nicht gegeben.

In unserer westlichen Geschichte hängen der Freigeist und der freie Markt zusammen...
Bei uns ist das anders gelaufen. Aber ich glaube, das ist nie so gelaufen, wie Sie sagen. Ich bin sicher, wenn Sie einen Sowjetbürger, der älter ist als 55 fragen, er wird Ihnen sagen, dass früher alles oder doch fast alles besser war. Bei der freien Bewegung von Gütern und Ideen weiß man nie, was kommt. Es kann auch auf Terrorismus hinauslaufen. Das ist doch das Problem mit der Freiheit.

Sie ermöglicht allen ...
In den Neunzigerjahren hatte Ägypten große Probleme mit dem Terrorismus. Das Geld kam damals aus dem Westen. Nicht von den westlichen Staaten, sondern von den fundamentalistischen Unterstützern des Terrorismus, die ihr Geld in den USA, in Deutschland, in England arbeiten ließen und damit den hiesigen Terrorismus finanzierten. Freier Geld- und Warenverkehr! Das Geld für die Terrorgruppen kam niemals direkt von den Gebern. Die Wege waren: Saudi-Arabien–Frankreich–Ägypten oder Iran–Deutschland–Ägypten. Das Geld ging auch nicht auf das Konto irgendeiner Privatperson. Es ging an vorgebliche Nicht-Regierungs-Organisationen. Alphabetisierungsprogramme, Gesundheitsorganisationen usw. Über die wurde unser Terrorismus finanziert. Darum änderte Ägypten damals die Bestimmungen für die NGOs. Es musste alles über die ägyptische Zentralbank laufen, und die ging jedem verdächtigen Eingang nach.

Sie sind da ganz bei Putin.
Der Unterschied ist: Die russische Föderation hat immer noch eine der stärksten Armeen in der Welt und kommt finanziell sehr gut über die Runden. Es gibt auch kaum Analphabeten in Russland. Fast vierzig Prozent der Ägypter aber sind Analphabeten.

In Ägypten sind die Dinge in den letzten Jahren nicht besser, sondern schlechter geworden?
Vor allem in den vergangenen zehn Jahren. Ägypten ist vor 200 Jahren mit Muhammad Ali Pascha (1769–1849), dem Albanier, der von 1805 bis 1848 Vizekönig von Ägypten war, in die Moderne gegangen. Er war Analphabet. Trotzdem. Kairo sollte ein schönerer Platz werden als Istanbul, das war damals das Zentrum einer Supermacht. Ali Pascha schickte darum Künstler, Literaten, Wissenschaftler, Techniker, Militärs nach Italien, Frankreich, Österreich, Deutschland – sie sollten dort lernen und dann Ägypten voranbringen. So wurde Ägypten, wurde Kairo, für eine Weile ein wirklich kosmopolitischer Ort. Alexandria war immer kosmopolitisch gewesen. Dort lebten Juden, Christen und Muslime friedlich miteinander. Sie heirateten sogar. Noch als ich ein Junge war, lebten in Alexandria Griechen und Italiener. Sie waren zweisprachig. Das beste Gemüse bekam man bei den griechischen Händlern.

Und Kairo?
Kairo war anders. Kairo war – und ist immer noch – sehr kosmopolitisch, aber alles ist dort ägyptisiert, es hat eine ägyptische Färbung bekommen. In Kairo spielten die Botschaften eine große Rolle. Die westlichen und die östlichen. Kairo war während des Kalten Kriegs eine der Topadressen der Spionagedienste aller Couleurs. Hier konnte man jeden treffen. Das war schon während des Zweiten Weltkriegs so gewesen. Ägypten war von Briten besetzt. Offiziell stand das Land auf der Seite der Alliierten, aber gerade, weil es von den Briten besetzt war, stand die Opposition auf Seiten der Nazis. Die Alliierten und die Achsenmächte hatten beide Hausboote auf dem Nil und beäugten sich dort gegenseitig.

Der arabische Sozialismus, den Nasser später ausrief, war eine sehr nationalistische Angelegenheit?
Im zwanzigsten Jahrhundert gab es drei große Nationalsozialismen. Zuerst war da der in Thessaloniki geborene Gründer der modernen Türkei Mustafa Kemal Atattürk (1881–1938). Er inspirierte Hitler und Nasser. Aber Atatürk war kein Expansionist. Die beiden anderen waren es. Hitler – das weiß jeder. Nasser wollte die Vereinigten Arabischen Staaten mit sich selbst als deren obersten Führer. Das konnte nicht funktionieren. Keiner der anderen wollte sich von Nasser austricksen lassen. Der Scheich von Saudi-Arabien zum Beispiel betrachtet sich nicht als Regierungschef, sondern als Besitzer des Landes. Die Vorstellung, hinter Nasser zurückzutreten, erschien ihm aberwitzig. Nasser verstand das nicht.

Sie sind ein Kind der Nasser-Zeit?
Mein Vater war in der Armee. Im Geheimdienst. Er diente Nasser in Missionen in Syrien, Jemen und Algerien. Heute ist er 86 Jahre alt und hat schon seit Jahrzehnten seine Haltung geändert. Er meint, Ägypten hätte eine Monarchie bleiben sollen. Die Armee hätte nach dem Putsch von 1952 ein paar Reformen in Gang setzen und sich dann wieder in die Kasernen zurückziehen und die Politik den Politikern überlassen sollen. Als Nasser starb, war ich sieben Jahre alt.

Was war unter Sadat?
In dessen elf Jahren ist sehr viel passiert. Ich erinnere mich noch, als er am 20. November 1977 in der Knesset sprach. Uns war klar, der Krieg gegen Israel war nicht zu gewinnen, also – so sahen wir das damals alle – musste man miteinander reden. Am 6. Oktober 1981 wurde Sadat von Islamisten ermordet. Ich war 18 Jahre alt. Das hat mich sehr geprägt. Die Bilder von der Ermordung Sadats kommen in drei meiner Videos vor.

Das war ein Wendepunkt?
Umso mehr, da Sadat selbst die Islamisten ins Spiel gebracht hatte. 1972, kurz nach seinem Machtantritt. Damals waren an den Universitäten die Kommunisten so stark, dass sie eine wirkliche Gefahr wurden. Sadat ließ an einem einzigen Tag 22 000 Muslimbrüder aus den Gefängnissen entlassen. Davon gingen viele an die Universitäten. Die drehten bei den Wahlen zu den Studentenvertretungen die Mehrheiten um. Weniger als zehn Jahre später ermordeten sie dann Sadat.

Die USA unterstützten die Islamisten in ihrem Kampf gegen die UdSSR. Dann griffen die Islamisten die USA an.
Das wiederholt sich immer. Wenn du jemandem Macht geben und verhindern möchtest, dass er anschließend dich beißt, nimm jemanden, der nichts mit Religion zu tun hat. Wer Religion hat, der braucht auf nichts Irdisches Rücksicht nehmen. Er weiß sich immer auf der richtigen Seite